In der ČSSR hatten die Häuptlinge des ZK einen neuen Parteichef aus dem Hut gezaubert, einen Funktionär Ohne Namen: Alexander Dubček. Dieses Häschen­krokodil der Nomenklatura verkündete etwas Unglaubliches. Der neue Slogan hieß: Sozialismus mit menschlichem Antlitz. Im ersten Moment spotteten wir über diese offensichtliche Tautologie, wir witterten einen liberalistischen Maskenball der Stalinisten. Doch bald dämmerte auch mir und beseelte uns alle, dass dieser junge Parteisekretär Dubček das Paradoxon offenbar kindlich ernst meinte. Nicht etwa kleine Freiheiten sollten gnädig gewährt werden, nicht also Freiheit als Falschgeld im Plural, sondern die Freiheit im Singular! Konkret: Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Versammlungs­freiheit. Die neue Maske war ein Menschengesicht!

In der DDR-Presse kein Wort darüber. Nur über Radio Prag hörte ich, dass die Opfer der Prager Schauprozesse des Jahres 1952 rehabilitiert wurden. Rudolf Slánský war auf einmal kein hingerichteter Konterrevolutionär mehr, sondern ein Märtyrer. Das konnten keine Propaganda­tricks sein, keine stalinistische Entstalinisierung à la Chruschtschow, denn es ging viel tiefer als die halbherzige Liberalisierung nach dem XX. Parteitag der KPdSU 1956. Dubček betrieb offenbar eine echte Demokratisierung. Als uns klar wurde, dass der große Bruder Breschnew tobte und der kleine Bruder Ulbricht Galle spuckte, als die Brüder des Warschauer Pakts immer hysterischer geiferten, da ahnten wir, dass eine neue Zeit angebrochen war. Allerdings – was Wunder! – fand in Prag eine Revolution von oben statt, also eine Art guter Staatsstreich echter Kommunisten im Apparat der Partei.

Unser DDR-Herz lachte, und wir spekulierten auf einen noch unbekannten Dubček auch bei uns in der DDR, im Politbüro der SED.

Ω Ω Ω

Rudi Dutschke erzählte mir von seinem Streit­gespräch mit Studenten in Prag im April des Jahres und wunderte sich über deren »hysterische Angst« vor einem sowjetischen Einmarsch. Die tschechischen Studenten verstünden seine Auffassung von Marxismus nicht, für sie sei Marxismus gleichbedeutend mit Unterdrückung.

Die Raubtiere im Politbüro der SED waren wirklichkeitsnäher als Dutschke. Sie zitterten vor dem lächelnden Menschengesicht ihres Genossen Dubček.

—Wolf Biermann, »Warte nicht auf bessre Zeiten!«, (Berlin: Ullstein Buchverlage GmbH, 2016), 212-215.

Bookmark the permalink.