Den westdeutschen Reisepass wollte ich über ein Jahr lang partout nicht annehmen. Ich reiste immer mit meinem noch gültigen DDR-Pass von einem Konzert zum anderen durch Europa. Das gefiel meinem gekränkten Herzen, aber es war umständlich. Die Beschaffung der Visa nach Spanien und Frankreich und Skandinavien kostete Zeit und Nerven und Gebühren. Die immer neuen Stempel fraßen sich in die kostbaren freien Blätter des DDR-Passes rein. Ewig konnte das nicht so weitergehn. Ich spielte mit dem Gedanken, Staatsbürger der Niederlande zu werden. Die Vorsitzende der holländischen Sozialdemokraten »Partij van de Arbeid«, len van den Heuvel in Amsterdam, bot mir das an. Ich liebäugelte mit dieser Volte, weil ich damit rein rechtlich zugleich meine DDR-Staatsbürgerschaft hätte behalten können. Doch der niederländische Außenminister verhinderte diesen Coup, und das war gut so.

Ich lehnte die bundesdeutschen Papiere nicht etwa deshalb ab, weil ich diesen Status verachtet hätte, keineswegs! Ich wollte vielmehr die Bonzen der SED nicht so locker über’n Hocker aus meiner DDR-Staatsbürgerschaft entlassen, wie sie mich aus der ihren. Nicht nur sie hatten mich verbissen, sondern auch ich war verbissen in meine vertrauten Feinde. Ich wollte diese schändliche Ausbürgerung nicht durch die automatische Einbürgerung als Bundesbürger formell akzeptieren. Als ich meine alte Freundin Lou Eisler in Wien wiedertraf, sagte sie: »Wolf, die Ausbürgerung ist das Beste, was dir passieren konnte! Jetzt kannst du endlich in die Welt!« Aber ich schüttelte den Kopf und verstand sie nicht. Es ist die verrückte Wahrheit: Wenn ich es mir 1976 hätte aussuchen können, wäre ich lieber in die stalinistische Sowjetunion verbannt worden als in den kapitalistischen Westen. Dort hätte ich das Problemchen mit der fremden Sprache gehabt, aber die Grundstrukturen der totalitären Gesellschaft waren mir familiär vertraut, es herrschte halt der totalitäre Drache. Ich wollte die ersten Jahre nichts als zurück in den Osten.

—Wolf Biermann, »Warte nicht auf bessre Zeiten!«, (Berlin: Ullstein Buchverlage GmbH, 2016), 346-47.

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